Die Krefeldstudie

„Die deutschen Amateure, die den Untergang der Insekten entdeckten“

Zugegeben – dass es eine deutsche Studie in die New York Times schafft, ist selten. Und doch gelang es ausgerechnet einer kleinen Gruppe Insektenliebhaber des Entomologischen Vereins Krefeld im Dezember 2017, in die einflussreiche Zeitung zu kommen. Zeitgleich berichteten Medien weltweit von der Studie der Hobbyentomologen, vielfach mit ebenso dramatischen Titeln wie die New York Times. So warnte der britische Guardian vor dem „ökologischen Armageddon“ – ein Titel, den die ZEIT direkt übernahm, und National Geographic fragte „Wo sind die ganzen Insekten hin?“. Bereits nach einem Jahr hatte die Studie über eine halbe Million Klicks. Auf welche bahnbrechenden Erkenntnisse war man in Krefeld gestoßen?

 

Die Methode

Für diese umfangreiche Studie wurden zwischen 1989 und 2016 an insgesamt 63 Standorten in Naturschutzgebieten in Deutschland Insekten gefangen. Die Standorte der Fallen deckten drei Lebensraumtypen ab: 

  • karge Flächen, darunter beispielsweise nährstoffarme Heidelandschaften, sandige Wiesengebiete und Dünen
  • nährstoffreiche Weideflächen, Randbereiche und Brachland
  • Flächen mit Pionierflora bzw. Gestrüpp

An den meisten Standorten wurden Insekten in Laufe der Studie nur einmal gefangen. Diese Herangehensweise schließt aus, dass der Fang der Insekten in einem Jahr die Aufnahme im folgenden Jahr beeinflusst. Die Insekten wurden in sogenannten Malaise-Fallen gefangen (Abbildung 1). Diese Fallen bestehen aus einem zeltförmig aufgebauten Netz, in das die Insekten zufällig hineinfliegen. Um dem Hindernis auszuweichen, fliegen Insekten reflexhaft nach oben. Am höchsten Punkt des Netzes befindet sich eine Flasche mit Alkohol, in den die Insekten hineinfallen und konserviert werden. Diese Methode ermöglicht das konstant gleichbleibende Fangen von Fluginsekten vom Frühling bis in den Herbst und über mehrere Jahre hinweg an verschiedenen Standorten. Die Fallen wurden im Schnitt alle 11 Tage geleert. Im Labor wurden die Insekten dann gewogen. 

Zusätzlich wurden Wetterdaten (Temperatur, Niederschlag und Windgeschwindigkeit) von Klimastationen nahe der Fallen ausgewertet. Zur Dokumentation der Landnutzung wurden Luftbilder in einem Umkreis von 200 Meter um die Fallen gemacht und ausgewertet. Darüber hinaus wurde die vorhandenen Pflanzenarten an den Fallenstandorten in Vegetationsaufnahmen festgehalten. Letztendlich erstellten die Wissenschaftler statistische Modelle, um die Zusammenhänge zwischen der Insektenbiomasse und den aufgenommenen Faktoren herauszuarbeiten. 

Kurz und bündig…

Für die Krefeldstudie wurden zwischen 1989 und 2016 an insgesamt 63 Standorten in Naturschutzgebieten in Deutschland Insekten gefangen und deren Biomasse bestimmt. Das Gewicht dieser flugaktiven Insekten nahm über den Untersuchungszeitraum von 27 Jahren um 76,7 % ab. Im Hochsommer lag der Rückgang durchschnittlich sogar bei 81,6 %.

Um den Rückgang zu begründen, werteten Wissenschaftler zusätzliche Daten zur Landschaft um die Fallen sowie Klimadaten aus, konnten damit den dramatischen Rückgang aber nicht eindeutig erklären. Die Krefeldstudie ist die erste Studie, in der das „Insektensterben“ über einen so langen Zeitraum mit gleichbleibender Methode untersucht wurde.

Abbildung 1: Aufgebaute Malaisefalle am Standort. Foto: Hallmann et al (2017)

Das Ergebnis

Die Biomasse flugaktiver Insekten nahm über den Untersuchungszeitraum von 27 Jahren um 76,7 % ab (Abbildung 2a). Im Hochsommer lag dieser Rückgang im Mittel sogar bei 81,6 % (Abbildung 2b). Zu diesen schockierenden Ergebnissen kamen die Entomologen sowohl an Standorten, die nur einmal beprobt und anschließend gemittelt wurden, als auch an denen die mehrfach beprobt wurden. Damit ist die Krefeldstudie der erste wissenschaftliche Beleg eines dramatischen Insektenrückgangs, der über mehrere Jahrzehnte konstant aufgenommen wurde. 

Über die zusätzlich aufgenommenen Klima- und Landnutzungsdaten konnten die Wissenschaftler folgende Zusammenhänge nachweisen: Je mehr Niederschlag zwischen zwei Fallenleerungen fiel, desto weniger Insekten wurden gefangen. Eine höhere Temperatur führte kurzfristig zu mehr Insektenbiomasse in den Fallen. Allerdings stieg die Durchschnittstemperatur über die gesamte Studie um 0,5°C, während die Biomasse gefangener Insekten im Schnitt deutlich abnahm. Es wurde kein Zusammenhang zwischen dem Niederschlag über die Wintermonate oder der Anzahl an Frosttagen und der Masse gefangener Insekten im folgenden Jahr gefunden. 

Laut der Daten waren bereits zu Beginn auf Wiesen, Randbereichen und Brachland 43 % mehr Insekten zu finden als in Heidelandschaften, sandigen Wiesengebieten oder Dünen. Allerdings waren alle untersuchten Lebensraumtypen vom allgemeinen Rückgang der Insekten gleichermaßen betroffen. Gleichzeitig wurde durch die Aufnahmen der Vegetation ein deutlicher Rückgang der Artenvielfalt unter den Bäumen, Sträuchern und krautigen Pflanzen im Verlauf der 27-jährigen Studie festgestellt. 

Abbildung 2: Abnahme der durchschnittlichen Biomasse in Gramm pro Tag. Man beachte die logarithmische Darstellung! Originalabbildung von Hallmann et al (2017). A. Das Boxplotdiagramm zeigt die Biomasse der Insekten, die pro Jahr über alle Fallen hinweg gefangen wurden. Die schwarze Linie repräsentiert den Trend, der über den Untersuchungszeitraum hinweg gemessen wurde. B. Die Abbildung stellt den saisonalen Verlauf der Biomasse der durchschnittlich pro Tag gefangenen Fluginsekten von April bis November dar. Der Farbverlauf von dunkelblau zu orange zeigt den Zeitverlauf von 1989 bis 2016.

Diskussionen und Kritik

Dass so bedeutsame Studien wie die Krefeldstudie heftig diskutiert werden, ist selbstverständlich. In dieser Studie wurde besonders die Statistik kritisiert: die statistischen Modelle, die die Experten angewandt hätten, seien fehlerhaft oder unzutreffend. Insgesamt wurden für die Studie sieben Modelle getestet, die die Veränderung der Insektenbiomasse möglichst realitätsgetreu statistisch abbilden sollten. Folgende zusätzlich aufgenommene unabhängige Daten, in der Statistik Kovariablen genannt, wurden auf ihre Relevanz für die Modelle getestet: 

  • Zeitliche Einflüsse (Zeit der Fallenleerung im Jahresverlauf)
  • Klimadaten (Temperatur, Niederschlag, Windgeschwindigkeit, Frosttage, Niederschlag im Winter)
  • Lebensraum (Artenzahl krautiger Pflanzen und Bäume um die Falle, Stickstoffgehalt und pH-Wert des Bodens, Bodenfeuchtigkeit, Licht etc.)
  • Landschaft (Landwirtschaftlich genutzte Fläche, Wiesen, Wald, Gewässer)

Die signifikanten Faktoren flossen dann in unterschiedlichen Kombinationen in die sieben Modelle ein. Trotz der Auswertung des Einflusses zahlreicher Kovariablen auf die Entwicklung der Insektenbiomasse blieb ein Großteil des beobachteten Rückgangs statistisch unerklärt. Wichtig ist, dass die Modelle nur zur Erklärung der gemessenen Ergebnisse dienten und mit dem tatsächlich gemessenen Rückgang der Insekten nichts zu tun hatten.

Des Weiteren verurteilten Kritiker, dass die Insekten bei dieser Methode lediglich gewogen, nicht aber bis zur Art bestimmt wurden. Durch diese Herangehensweise beeinflusst beispielsweise ein schwerer Käfer das Ergebnis deutlich stärker als hunderte oder möglicherweise tausende kleine, leichte Fliegen. Durch die riesige Anzahl an Insekten, die über den Studienzeitraum von 27 Jahren gesammelt wurden, stellt die Sortierung dieser Insekten selbst engagierte Entomologen vor eine gewaltige Herausforderung. Besonders am Anfang des Untersuchungszeitraums war es im Hochsommer keine Seltenheit, gute zehn Gramm Insekten pro Tag zu sammeln, was mehreren zehntausend Insekten pro Fallenleerung entsprechen kann. Bereits mit dem Sortieren auf Ordnungsniveau (in Käfer, Schmetterlinge, Hautflügler, Zweiflügler usw.) verbringen zahlreiche Helfer unzählige Monate oder Jahre. Dazu kommt, dass für mehrere Insektengruppen weder Bestimmungsliteratur noch Experten verfügbar sind. Und schließlich dränge die Zeit, denn mit der Veröffentlichung der Ergebnisse wurde eine Debatte über den Schutz von Insekten angestoßen, die nicht nur in Deutschland längt überfällig war. Somit wird nachvollziehbar, warum sich die Krefelder Entomologen für das Wiegen der Fluginsekten als vorläufige Methode der Wahl entschieden hatten. Schon zu Beginn der Studie war den Autoren der ungemeine Erkenntnisgewinn einer späteren detaillierteren Auswertung bewusst. Daher wurden alle Insekten nach dem Wiegen zurück in Sammlungsgefäße überführt und für die künftige Bestimmung oder wissenschaftliche Analysen fachgerecht aufbewahrt, sodass sie jederzeit zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung stehen. 


Schlussfolgerung

Die Wissenschaftler konnten mit der Krefeldstudie die lokal und temporär oft sehr beschränkten Berichte des Rückgangs von Insektengruppen (darunter bspw. Schmetterlinge, Wildbienen oder Nachtfalter) anderer Studien bestätigen. Durch das breite Spektrum an Arten, die durch Malaisefallen erfasst und hier als „Fluginsekten“ zusammengefasst werden, erhält die Krefeldstudie eine weitreichende Aussagekraft. 

Die Analyse der Einflussfaktoren ergab kein eindeutiges Ergebnis. Weder die Landschaft noch die Klimaverhältnisse konnten den Rückgang der Insekten statistisch zufriedenstellend erklären. Aufgrund der Beobachtung, dass die Biomasse der Insekten in allen untersuchten Lebensraumtypen und über die gesamte Vegetationsperiode hinweg konstant abnahm, schlussfolgerten die Autoren, dass die treibende Kraft hinter dem Insektenrückgang ein großmaßstäblicher Faktor sein muss. Als solchen Faktor zogen sie die Landwirtschaft mit intensivem Pestizideinsatz, ganzjährigem Ackerbau, gesteigertem Düngereinsatz und dem Verlust der Strukturvielfalt in Betracht. Diese Erklärung scheint durchaus plausibel, da 94 % der untersuchten Naturschutzgebiete von landwirtschaftlich genutzter Fläche umschlossen sind. 

Warum ist die Krefeldstudie denn nun so wichtig? Zuerst muss erwähnt werden, dass die Krefeldstudie bei Weitem nicht die einzige Studie ist, die sich mit dem Rückgang der Insekten befasst. Andere Studien konnten bereits Rückgänge von Schmetterlingen, Wildbienen, Nachtfaltern und anderen Insektengruppen nachweisen. Ebenso ist das lokale Verschwinden bestimmter, meist bereits gefährdeter Arten in vielen Fällen gut dokumentiert. Trotzdem machen zwei Faktoren die Krefeldstudie in der Fachwelt ganz besonders: Zum einen die Laufzeit der Studie. Um einen langfristigen Rückgang nachzuweisen, müssen Studien über mehrere Jahrzehnte vergleichbar durchgeführt werden. Da die Finanzierung vieler Studien über Drittmittel erfolgt, sind die meisten Studien auf wenige Jahre beschränkt. Nicht so die Krefeldstudie, an der Mitglieder des Entomologischen Vereins Krefeld über knapp drei Jahrzehnte ehrenamtlich gearbeitet haben. Der zweite Faktor ist das Wiegen der Biomasse. Viele frühere Studien sind auf wenige Arten, Gattungen oder Familien beschränkt. Die Methode der Krefelder, die Insektenbiomasse zu wiegen, statt die Insekten individuell auf Artniveau zu erfassen, ermöglicht eine umfassende Aussage über tausende Arten, die zusammen die „Fluginsekten“ ausmachen.

Verfasser: M. Moser

Literatur zum direkt Nachlesen

  • Hallmann CA, Sorg M, Jongejans E, Siepel H, Hofland N, Schwan H, et al. (2017) More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE 12(10): e0185809. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809